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Aus dem Pariser Szenesumpf - Sturm im Wasserglas

Freitag 27. Februar 2015

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Der anarchistische Buchladen La Discordia in Paris und die mit ihm freundschaftlich verbundene Website Non fides waren in letzter Zeit gewissen Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt; unter anderem wurde der Laden kürzlich mit Parolen besprüht, die ihn als „faschistisch“ und „rassistisch“ bezeichnen. Stein des Anstoßes ist die von diesen Leuten betriebene Kritik des Islam, die Teilen der „antiautoritären“ Szene offenbar ein Dorn im Auge ist.

Angesichts des falschen Gegensatzes zwischen westlicher Zivilisation und islamistischer Barbarei, der seit den Terroranschlägen in Paris vom November letzten Jahres verstärkt die öffentliche Debatte in Frankreich bestimmt, haben sich viele französische Linke und Linksradikale gemäß der Logik „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ mehr oder weniger offen auf die Seite des Islam gestellt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der postmoderne Kampfbegriff der „Islamophobie“, mit dem faktisch jede Kritik der muslimischen Religion als „Rassismus“ abgelehnt wird. Die Szene zeigt damit einmal mehr, wie sehr sie Teil der abzuschaffenden Verhältnisse ist; kollaboriert sich doch mit einer der aktuell wichtigsten Stützen der bestehenden Ordnung, die zur Befriedung der Vorstädte beiträgt und große Teile der migrantischen Bevölkerung an die Herrschaft bindet.

Als kleine Geste der Solidarität mit diesen Anarchisten und zur Erinnerung an die Banalität, dass die Kritik der Religion nach wie vor Voraussetzung jeder Kritik ist, haben wir ein Kommuniqué der Betreiber von La Discordia anlässlich der gegen sie gerichteten Sprühereien sowie die Ankündigung einer Veranstaltung übersetzt, die den Zorn ihrer postmodernen Feinde erregt hat.

Ni dieu ni maitre!

Ãœbersetzerkollektiv et. al., Februar 2016


Parolen auf der anarchistischen Bibliothek La Discordia

Wie schon lange geplant, fand am Dienstag, den 26. Januar, in der „Discordia“ eine Veranstaltung mit dem Titel: „Islamophobie: du racket conceptuel au racket politique“ (Islamophobie: von der begrifflichen zur politischen Erpressung) statt. Wir wollten uns und andere mit einem Thema konfrontieren, das im Zentrum der gegenwärtig weit verbreiteten Verwirrung bezüglich der Verdammung des Rassismus und der Verteidigung der Religion steht. Die gemeinsamen Diskussionen waren interessant und die gut 60 anwesenden Genossen und Kameraden (wir versprechen, nächstes mal mieten wir einen größeren Raum mit mehr Stühlen!) zeigten, dass viele Leute ein Bedürfnis nach revolutionärer Kritik der Religion haben – jeder Religion, sogar des Islam, den andere gern als die „Religion der Unterdrückten“ ausgeben wollen.

Als wir jedoch am Dienstag Nachmittag ankamen, sahen wir, dass die Hauswand der „Discordia“ beschriftet worden war: Mit einigen umkreisten A’s (danke schön!) und einigen selten schlecht geschriebenen und gedachten Schmähungen („Faschisten“ und „Rassisten“) in schwarzer Sprühfarbe. All dies war von einem Flugblatt mit „Forderungen“ begleitet, das behauptet, wir würden „islamophobe und rassistische Theorien“ verbreiten und seien ein „Antriebsriemen für Ideologien der Macht“, etc. Wir werden euch jedenfalls nicht deren ganzen Unsinn wiederholen, der alle kräftig zum Lachen gebracht hat. Wenn Ihr das lesen wollt, kommt in der Bibliothek während unserer Öffnungszeiten oder Diskussionen vorbei und lacht mit uns (oder greift uns selbst anstatt unserer Wände an).

Die Antwort auf diese Beschimpfungen war der Erfolg der Diskussion am Dienstag, dem 26., aber auch der aller anderen Veranstaltungen.

Um es kurz zu machen: Die beleidigenden (und schwer lesbaren) Aufschriften haben wir binnen fünf Minuten entfernt (was die Praxis angeht, müsst Ihr noch einiges lernen, Kinder!), aber die eingekreisten As werden bleiben! Unsere Nachbarn haben auch sehr über Euren Schwachsinn gelacht, da Eure Heldentat mit nichts und niemand in irgendeinem Zusammenhang steht, außer mit Euch selbst und Eurem stinkenden Saftladen. Übrigens, noch ein Hinweis für die mutigen Sprayer/Komödianten: Dass Ihr nicht nicht vom DGSI (Zentraldirektion für Inlandsaufklärung - der französische Inlandsgeheimdienst) gefilmt wurdet, liegt daran, dass wir die auf uns gerichtete Kamera entfernt und zerstört haben (lange bevor der Ausnahmezustand verkündet wurde). Jeder wird den Unterschied zwischen denen erkennen , die sich (jämmerlich) eine ohnehin schon von Repression bedrohte anarchistische Bibliothek als Opfer auswählen und denen, die sich ernsthafteren Problemen widmen.

In der Gegend gibt es keine anderen Sprühereien, weder auf Banken, noch an der Polizeistation, noch an den Schulen, die mit dem Geheimdienst zusammenarbeiten, noch an Kirchen, Synagogen oder Moscheen. Was für ein großartiger revolutionärer Angriff ist dies also – und auch noch gegen Anarchisten. Wenn wir „Aufmerksamkeit“ dieser Art erwartet haben (wir dachten an etwas ein bisschen „Konsequenteres“), dann wird uns das nicht von unseren Bemühungen abhalten, eindeutig revolutionäre Diskussionen zu entfachen, zu teilen und zu verbreiten, ohne mit irgendeiner Macht Kompromisse einzugehen, auch nicht mit der Religion. Es wird uns auch nicht davon abhalten, ohne Gewissensbisse die Kompromisse der Politiker innerhalb einiger Teile des „Milieus“ zu kritisieren – ganz im Gegenteil!

Ein Gedanke für die atheistischen „Faschisten“, die Ungläubigen, die heute von Teheran bis Saint-Denis als „Islamophobe“ behandelt werden – von furchterregenden Mächten genauso wie vom aufstrebenden französischen Kleinbürgertum der Universitäten, das nur den Rassismus seiner eigenen Klasse kennt und das gezeigt hat, dass seine einzige Praxis über die letzten 10 Jahre in der Fähigkeit besteht, einen unleserlichen Spruch an die Wand einer anarchistischen Bibliothek zu schmieren und mit religiösen Autoritäten Konferenzen zu organisieren. Eine Praxis, die sich auf dem selben Niveau wie ihre Theorie befindet.

Wenn man nüchtern betrachtet, wie der Staat revolutionäre Atheisten einerseits und „rassistische“ und religionskompatible Linke andererseits behandelt, so wird schnell klar, wer in Wirklichkeit als „Antriebsriemen für Ideologien der Macht“ bezeichnet werden kann: diejenigen, gegen die sich gewöhnlich die Repression richtet? Oder eher diejenigen, denen der Staat Lehrstühle an den Universitäten und Führungspositionen in seinen Institutionen Führungspositionen in seinen Institutionen anbietet (in der Tat besteht diese Galaxie hauptsächlich aus Akademikern und Kadern der mittleren und großen Bourgeoisie, seien diese nun Migranten oder nicht). Es ist daher auch kein Wunder, dass die politische Zielgruppe dieses postmodernen Bordells diesem weder zuhört noch Respekt entgegenbringt, wie alle Aufstände der letzten Zeit bewiesen haben, die sich einen Dreck um das aufgeblasene Geschwurbel unserer frommen Akademiker scherten – von Bahrain über Durban bis Baltimore.

Zum Schluss möchten wir allen danken, die vorbeigekommen sind und die wieder vorbeikommen werden. Wir sind auch dankbar für jede Information über unsere Künstler, die zwar engagiert, aber ein wenig feige sind, da sie es nicht schaffen, uns ihre Gedanken ins Gesicht zu sagen.

Wir rufen alle, denen revolutionäre Gedanken und Praxis etwas bedeuten, dazu auf, die Offensive gegen diese neue Reaktion zu verstärken und sich mit denen zu solidarisieren, die sich im Visier dieser frisch geborenen Reaktionäre befinden, indem sie ihren Teil zu deren Kritik beitragen und das dafür nötige Bisschen Mut aufbringen. Und indem sie die Versuche, antireligiöse Revolutionäre (das ist also keine Tautologie mehr?) zu isolieren, ins Leere laufen lassen.

Gegen alle Formen der Herrschaft, gegen alle Religionen und jeden Rassismus, lang lebe die Revolution! Lang lebe die Anarchie!

29. Januar 2016
Einige Bibliothekare der Zwietracht
http://ladiscordia.noblogs.org
ladiscordia@riseup.net


Islamophobie: Von der begrifflichen zur politischen Erpressung

Dienstag, 26. Januar 2016 – 19h

Der Ausdruck der „Islamophobie“ ist eine begriffliche und politische Erpressung, die sich im Schnittbereich zweier Begriffsfelder befindet – dem Religiösen und dem des Rassismus. Ihr Ziel ist es, der Kritik an der muslimischen Religion faktisch jede Legimität zu entziehen (und somit tendenziell der Kritik der Religion überhaupt), indem sie systematisch jede Kritik als Rassismus gegenüber den (wirklichen oder mutmaßlichen) Gläubigen bewertet. Viele so genannte „Revolutionäre“ haben sich diesen Begriff angeeignet – und wurden folglich blind angesichts der autoritären und befriedenden Rolle jeder Religion.

Wie uns also unsere frommen „Revolutionäre“ auf jede erdenkliche Weise von der „Islamophobie“ erzählen, so sprechen die Faschos des „Französischen Frühlings“ von der „Kathophobie“, andere wiederum von der „Negrophobie“ oder der „Judeophobie“. Jeder versucht seine kleine politische Erpressung mittels des Antirassismus. Jeder stellt seine kleine Unterdrückung und seine kleinen Sonderinteressen in den Vordergrund, immer in Konkurrenz mit anderen, und vertieft somit die Spaltungen zwischen den Ausgebeuteten. Und vor allem spricht keiner mehr vom Kampf gegen den Rassismus als solchen und in allen seinen Formen.

Dieses Begriffskonstrukt zurückzuweisen ist eine Voraussetzung, um sich gegen alle Religionen zu stellen, auch gegen den Islam, der von den Verteidigern des Konzepts der „Islamophobie“ als die Religion der Unterdrückten dargestellt wird (wie der irische Katholizismus oder der tibetanische Buddhismus in anderen Epochen). Im schlimmsten Fall geht es darum, die Religion als ein Element der Befreiung auszugeben, und im weniger schlimmen, den Gedanken zu verbreiten, dass die Religion kein Jahrhunderte altes Herrschaftsinstrument im Dienste der Ordnung sei. Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass Herrschaftsverhältnisse, sofern sie von vorgeblich „Unterdrückten“ getragen werden, sich in etwas Emazipatorisches verwandeln. Weil die Religion ein ernsthaftes Problem für diejenigen bleibt, die eine radikale Umwälzung dieser Welt wollen, ist diese Kritik notwendig, heute mehr denn je. Weil es keine „Religionen der Unterdrückten“ gibt, sondern nur Religionen, die unterdrücken.

Veranstaltungsankündigung im französischen Original: Islamophobie: du racket conceptuel au racket politique (Man muss auf dem blog ein wenig herunterscrollen - dort finden sich auf links zu weiterführenden Texten auf Französisch.)


Anlässlich der Veranstaltung erschienene Broschüre: Nos "révolutionnaires" sont des gens pieux (auf Französisch).

[Translation from Magazin.]