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Brief von Isa* und Farid* aus den Gaefängnissen von Lille Séquedin und Meaux, Mai 2008

Dienstag 29. Juli 2008

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Zu Beginn ging alles sehr schnell. Wir waren zu zweit im
Auto als wir vom Zoll in Vierzon kontrolliert wurden. Bei
einer Durchsuchung wurden in einer Tasche Anleitungen
zur Sabotage und zur Herstellung von explosiven Stoffen,
ein Plan von einem neuen Jugendgefängnis, der auch im
Internet zu haben ist, und eine kleine Menge von
Natronchlorat gefunden. Die Zusammenstellung der
Dinge trägt sicher erheblich zu ihrem subversiven Gehalt
bei... vor allem, weil Farid* der Polizei wegen seinem politischen
Engegement gegen Gefängnisse und in den
Kämpfen der Menschen ohne Papiere und ohne
Wohnraum bekannt war. Isa* hingegen war der Polizei
eine Unbekannte.

Die Ermittlungen wurden sofort von der Antiterrorismus-
Abteilung in Paris übernommen. Mehrere Hausdurchsuchungen
haben nichts ergeben, außer dass mehrere
Knallkörper, Flyer und politische Veröffentlichungen
beschlagnahmt wurden, die angeblich die Idee eines terroristischen
Projekts nachweisen sollen. Solche
Kurzschlüsse können wir nur zurückweisen.

Wie kann jemand wegen einer Sache angeklagt werden,
die er nicht getan hat und die nicht getan wurde? Auf
Verdacht hin und auf der Grundlage von Dokumenten, die
an sich nichts beweisen? Es ist einzig die politische
Dimension, die hier als Bedrohung gewertet wird. Heißt
das, dass jede Revolte ein Verbrechen ist, das sich jede_r
Demonstrant_in, jeder freie und engagierte Mensch schuldig
macht?

Unsere Ingewahrsamnahme wurde auf 96 Stunden verl
ängert und nach 72 Stunden konnten wir erst mit unserem
Anwalt sprechen. DNAProben wurden gegen unseren
Willen genommen und Isas* DNA soll im letzten Frühling
auf einem "brandstiftenden Gerät" vor dem Polizeipräsidium
des 18.Arrondissements in Paris gefunden worden
sein. Bis jetzt hatten die Ermittlungen nichts ergeben. Isa* weist jede Verbindung zu diesem Fall zurück. So ist die
DNAEntnahme ein sehr umstrittenes Mittel: im Zuge solcher
und ähnlicher Ermittlungen dient sie immer zur
Anklage von Personen, die verdächtigt werden, und die
Pseudoobjektivität der Wissenschaftlichkeit soll jegliche
Infragestellung dieses Vorgehens verhindern.

Wir gehören beide keiner politischen Gruppe an, sondern
sind welche von denen, die ihr sicherlich schon auf
Demonstrationen, Kundgebungen, öffentlichen Treffen,
Solikonzerten, Filmvorführungen, Diskussionsveranstaltungen...
getroffen habt: Teil der sozialen Kämpfe und verbunden
in einer kollektiven Bewegung.

Vielleicht habt ihr in der Presse von den "Anarcho
Autonomen" gelesen. Sobald die Unzufriedenheit und die
Wut mit mehr und mehr Überzeugung auf die Straße
getragen wird, verlautbart der Staat, dass es radikale,
extremistische oder von Gewalt verblendete und faszinierte
Gruppen sind, die den Ton angeben und manipulieren.
Diese Konstruktion hat ein Ziel: sie zeigt, dass
man sich in acht nehmen muss, sie zeigt die Grenze an,
die nicht überschritten werden darf, die bedrohliche
Illegalität, Repression, Kriminalisierung... Insgesamt handelt
es sich um eine Strategie, die die zum Schweigen
bringen soll, die sich für ihre Ideen einsetzen, die gegen
Unterdrückung und für Freiheit kämpfen... Wir wurden in
diese Kategorie einsortiert, ohne dass wir sie uns ausg
sucht hätten... Es handelt sich um einen unscharfen
Begriff, hinter dem sich angeblich organisierte terroristische
Gruppen verbergen, die "durch Einschüchterung und
Terror" Schaden zufügen wollen. So sind wir zu einer
furchtbaren Bedrohung für den Staat geworden... damit
das glaubwürdig ist, wird die nächstbeste zur Terroristin
gemacht, und zwar mit allen Mitteln der Rhetorik.

So wurden wir im Gefängnis unter besonderen
Bedingungen in der Kategorie "besonders bewachter
Gefangener" oder "RisikoGefangener" (letztere Kategorie
ist nur in der Haftanstalt von FleuryMérogis geläufig)
inhaftiert. Wir können sagen, dass uns so die Tragweite
und die Folgen der Paranoia von Seite der Macht erst
deutlich wurden. Wir sind einer intensivierten Ãœberwachung
ausgesetzt. Ohne dass wir verurteilt wurden, sehen
wir uns einer politisch motivierten Verbissenheit gegen-
über, die eine Motivation hat: durch uns soll die Existenz
eines ultra gefährlichen terrorostischen Netzwerkes
gezeigt werden. Ist diese Zuschreibung erstmal erfolgt,
sind alle Vereinfachungen erlaubt, alles muss aus dieser
Perspektive interpretiert werden, alle Elemente müssen
so gelesen werden, dass sie diese Konstruktion stützen.

Das ist besonders beunruhigend und irre. In den vier
Monaten der Untersuchungshaft haben wir zu spüren
bekommen, wie der Staat auf diejenigen, die sich nicht
ruhig halten wollen, mit zerstörerischer Rache und
Bestrafung reagiert; wie er seine Autorität zum Beispiel
durch ständige und willkürliche Verlegung in andere, weit
entfernte Haftanstalten spielen lässt und so eine wirkliche
Verteidigung sehr erschwert. Vor kurzem haben wir
erfahren, dass die Ermittlungen in unserem Fall mit denen
von "Créteil" (die Anklage gegen Ivan und Bruno) zusammengelegt
wurden: die Ermittlungen gegen die
"AnarchoAutonomen"...

Wir wollen nicht Spielball der Machtinteressen von politischen
und repressiven Institutionen sein:

Lasst uns gemeinsam verhindern, dass der Staat uns die
Orte der Auseinandersetzung nimmt!

Isa* und Farid*, aus den Gefängnissen von Lille Séquedin
und Meaux, Mai 2008

* Namen geändert